Rockenberg-Verein: Wie sind Sie Gefängnisseelsorger geworden?
Otto Seesemann: Das geht zurück auf eine Anfrage der Kirchenleitung unserer Landeskirche. Die Pfarrstelle an der JVA Rockenberg war schon lange Zeit vakant. Ein Vertrag mit dem Land Hessen legt aber fest, dass eine vakante Pfarrstelle innerhalb von sechs Monaten wieder zu besetzen ist. Im Jugendstrafvollzugsgesetz ist festgelegt, dass jugendliche Gefangene ein Recht auf Seelsorge und Gottesdienste haben. Ich habe damals erstmal ein vierwöchiges Praktikum in der JVA Rockenberg gemacht, um zu prüfen, ob ich mir das überhaupt vorstellen kann. Nach dem Praktikum habe ich mich dazu entschlossen zu bleiben. Damals war ich 33 Jahre alt. Ich bin 10 Jahre später erst wieder aus Rockenberg weggegangen unter anderem auch, weil ich das Gefühl hatte, langsam zu alt zu werden, um mit den Jugendlichen noch richtig gut in Kontakt zu treten. Dem Gefängnis bin ich aber „treu geblieben“: Nach ein paar Jahren in der Paulus Gemeinde in Gießen war ich von 1983 bis 2000 Gefängnisseelsorger in der JVA Butzbach, also bei den erwachsenen Männern.
Rockenberg-Verein: Worin besteht die Arbeit eines Gefängnisseelsorgers?
Otto Seesemann: Aus seelsorgerlichen Gesprächen, Gottesdiensten und Gruppenarbeit. Ich hatte einen Schlüssel und somit ungehinderten Zugang zu den Gefangenen; ein Dienstzimmer gab es auch. Ich wollte nicht missionieren, den Gefangenen distanziert und alles-besser-wissend begegnen, wollte sie nicht ausfragen und noch einmal verhören. Ich wollte Mensch sein, ihnen als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Ich habe wenig „Rezepte“ verteilt, sondern eher Aufmunterungen. Häufig ging es um die Frage der Schuld und um die Frage „Was bin ich für ein Mensch?“. Bei Erwachsenen geht es oft um Eheprobleme. Es sind auch eher die erwachsenen Gefangenen, die mit mir beten wollten. Alles, was gesprochen wird, unterliegt der Schweigepflicht und dem Beichtgeheimnis. Natürlich habe ich auch Gottesdienste gehalten. Das war in Rockenberg durchaus stressig, denn ich habe erst den Gottesdienst um 9.00 Uhr in der JVA und um 10.30 Uhr den für die Gemeinde vor Ort gehalten – mit zwei unterschiedlichen Predigten. Die Jugendlichen in der JVA Rockenberg hatten damals weder ein Radio noch ein Fernsehgerät. Daher kannten sie am Sonntagmorgen noch nicht die aktuellen Ergebnisse der Fußballbundesliga, die ich ihnen dann sagen konnte.
Rockenberg-Verein: Inwiefern waren Sie wichtig für die jugendlichen Gefangenen?
Otto Seesemann: Ich denke deswegen, weil ich ihnen vertraut habe und ihnen nicht mit dem im Strafvollzug üblichen Misstrauen begegnet bin. Diesen Vorschuss an Vertrauen haben die Gefangenen nur selten missbraucht; ich habe es nie bereut, mit Gefangenen gegebenenfalls eine nahe Beziehung einzugehen. Jugendliche Gefangene haben – im Gegensatz zu den erwachsenen Gefangenen – noch Hoffnung, ihr Leben ohne Knast hinzukriegen, wenn sie ihre Strafzeit abgesessen haben. Ich halte es für wichtig, dass sie sich einen Plan, ein Konzept für ihr Leben nach dem Knast zurechtlegen. Ich habe versucht, das den Jugendlichen nahe zu bringen und mit ihnen zu besprechen. Das ist natürlich viel leichter, wenn es noch Eltern und eine Familie gibt, die den Jugendlichen unterstützt. Ich bin mit den Gefangenen zum Teil zu ihren Eltern gefahren und stand dort dann – obwohl es anders vereinbart war – vor verschlossener Tür. Es hing dann schon mal ein Zettel dran auf dem stand: „Wir wollen keinen Kontakt mehr.“ Das ist natürlich hart!
Rockenberg-Verein: Ein Gefängnispfarrer, der mit einem Gefangenen im Auto zu dessen Eltern fährt, das ist heute nicht mehr vorstellbar. Was war damals anders und warum?
Otto Seesemann: 1970 gab es seitens des Justizministeriums in Wiesbaden einen Erlass, der einen „Vollzug in freien Formen“ ermöglichte. Darauf machte mich der sehr engagierte JVA-Leiter Alexander Böhm aufmerksam und so begannen die „Gottesdienste der Jugend für die Gemeinde“ außerhalb der JVA: Ich bin mit 12–15 jugendlichen Gefangenen in einem gemieteten Bus zu 52 hessischen Kirchengemeinde gefahren, in denen wir Gottesdienste gestalteten zu Themen wie „Komplizierte Freiheit“ oder „All you need is love“. Wir hatten eine Musikgruppe dabei, vor allem für die eigenen Songs. Diese Gottesdienste haben das gegenseitige Kennenlernen befördert und gegenseitige Vorurteile abgebaut. Ich habe übrigens auch Waldläufe mit den Jugendlichen gemacht, Fußball gespielt oder Tischtennis. Sport ist für mich eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu den Jugendlichen. Sport öffnet Türen zu anderen Menschen, die sonst wohl verschlossen blieben. Das alles außerhalb der JVA, ohne Sicherheitspersonal. Pro Jahr war ich wohl mit insgesamt ca. 1.000 Häftlingen draußen.